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Zum Gründungstag, dem 17. November 1875:

H. P. Blavatsky – der Lucifer der Theosophie
Bemerkungen zu den Lucifer-Aufsätzen der Begründerin der modernen Theosophie
von Dr. Manfred Ehmer, Berlin


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ie noch junge theosophische Bewegung war gerade im Begriff, sich wie ein Lauffeuer über Europa, Indien und Amerika zu verbreiten, als H. P. Blavatsky im Sept. 1887 ihre zweite Zeitschrift unter dem Titel Lucifer herausgab.

Sie war nach längerem Aufenthalt in Indien im Mai 1887 von Ostende nach London gekommen, um dort ihren Hauptwohnsitz zu beziehen und mit einigen Gesinnungsfreunden die Blavatsky Loge zu organisieren. Die erste Ausgabe des Lucifer erschien am 15. September 1887 als Theosophical Magazine mit dem Ziel, "Licht in die verborgenen Dinge der Finsternis zu bringen" (1. Kor. 4/5) – der Name wird also ganz im ursprünglichen Sinne etymologisch korrekt als "Lichtbringer" aufgefasst, als Erkenntnis-Entfacher und Erwecker des menschlichen Geistes, ungeachtet der üblichen Gleichsetzung dieses Namens mit dem christlichen "Teufel". Der Name "Lucifer" hat also nichts mit einem etwaigen Teufelskult zu tun, sondern markiert ein zutiefst humanes, emanzipatorisches und geradezu aufklärerisches Anliegen: die Befreiung des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündig-keit und der immerwährende Kampf gegen Unwissenheit und Vorurteil.

   Doch schon damals wurde der Name des Magazins missverstanden. In der bigotten Atmosphäre des viktorianischen England war man leicht geneigt, in einer Zeitschrift solchen Titels das Organ einer Satanisten-Vereinigung zu sehen. Man wollte in Lucifer den "gefallenen Engel", nicht den "Lichtbringer" sehen. Deshalb sah sich H. P. Blavatsky veranlasst, im Editorial der ersten Nummer den ungewöhnlichen Titel zu recht-fertigen; in ähnlichem Sinne schrieb sie in einem Brief an ihre Familie: "Warum macht ihr mir Vorwürfe, dass ich meine Zeitschrift Lucifer nenne? Es ist ein wunderbarer Name! Lux, Lucis – Licht, ferre – tragen, bringen; 'der Lichtbringer' – was könnte besser sein? .... Erst durch Miltons Verlorenes Paradies wurde Lucifer zum Synonym für gefallene Geister. Die erste Aufgabe meiner Zeitschrift wird sein, den Makel des Missverständnisses von diesem Namen zu entfernen, der von den frühen Christen für Christus verwendet wurde .... Eosphoros der Griechen, Lucifer der Römer – das sind die Bezeichnungen [der Venus] des Morgensterns, des Botens des strahlenden Sonnenlichts .... Sagt nicht Christus über sich selbst: 'Ich, Jesus ...., bin der strahlende Morgenstern' ? (Offenbarung 22:16) .... So soll auch unsere Zeitschrift wie der helle, reine Stern der Morgendämmerung den strahlenden Tagesanbruch der Wahrheit verkünden – den Übergang aller Disharmonie, aller Interpretationen durch das Wort, in das eine Licht der Wahrheit durch den Geist." [1]
   "Lucifer" als "Lichtbringer" schien auch am besten das theosophische Anliegen zu verkörpern, das "Innere Licht" als das dem Menschen einwohnende Göttliche durch eigene Erkenntnis-Tat zu entfachen. Im Christentum hat Lucifer jedoch durch den Sündenfall-Mythos einen einschlägigen Sinn bekommen. Wie Satan, Beelzebub – das ist Baal-Sebub, ein Aspekt des kanaanitischen Baal –, wie der gehörnte Waldgott Pan oder der keltische Cernunnos, so gehört auch Lucifer zu jenen schillernden Gestalten aus der Welt des europäischen Heidentums, die dem „Teufel“ der christlichen Mythologie wohl als unmittelbares Vorbild gedient haben müssen. Alle Prototypen des Teufels aus dem antiken Heidentum tragen durchweg das Gepräge des Wild-Chaotischen, Elementar-Naturhaften, sie sind meist Götter üppiger Fruchtbarkeit und phallischer Kraft, Götter auch des Rausches oder der Ekstase; und sie zeigen überdies oft das Antlitz eines Rebellen und Freiheitskämpfers.
   Fasst man die Lucifer-Figur im ursprünglichen Sinn auf, dürfte es leichter fallen, das Anliegen der theosophischen Zeitschrift "Lucifer" recht zu verstehen. Sie stand im Zeichen wohlberechtigter Revolte gegen Dogmatismus, Klerikalismus, Intoleranz, Vorurteil und Unwissenheit, und zugleich verkörperte sie ihrem Namen entsprechend das spirituelle Grundanliegen der Durchlichtung, Bewusstwerdung, Befreiung. Dass die Gestalt des Lucifer – ein Titan, ein Lichtbringer, ein ewiger Rebell wie Prometheus – einer auf Unterwerfung bedachten Religion wie dem (exo-terischen) Christentum immer fremd bleiben musste, leuchtet ein. Darum wurde gerade diese Gestalt zum "Teufel" gemacht, im wörtlichen Sinne verteufelt und mit allen Attributen des Bösen ausgestattet. Denn der Ver-such des Menschen, seine Mitte in sich selbst zu finden, in seinen schöpferischen Ichkräften, gilt in christlicher Sicht als "vermessener, strafwürdiger Abfall, als Aufstand und Empörung der 'creatura' gegen den 'creator', gegen Gott"; daher wird der Christ "den luciferischen Weg 'ad se ipsum', als auf die gesetzte Mitte der Welt, verurteilen und das prometheisch-luciferische Tun verdammen."[2] An diesem Verdammungs-urteil der Kirche gegen jede emanzipatorisch ausgerichtete Spiritualität hat sich bis heute nichts geändert!
   Madame Blavatsky war eine unermüdliche Artikel-Schreiberin; die Zahl ihrer Veröffentlichungen in Zeitschriften seit 1874 in englischer, französischer, russischer und italienischer Sprache wird auf annähernd 1000 geschätzt.[3] Dabei unterschrieb sie ihre Beiträge zumeist mit ihrem Namen, oder mit dem beliebten Kürzel H. P. B., oder mit ihren zahlreichen Pseudonymen wie Hadji Mora, Radha-Bai, Sanjna, Adversary und ande-ren. Sie veröffentlichte ursprünglich in spiritistischen Journalen wie dem Banner of Light, dem Spiritual Scientist, dem Spiritist und dem Religio-Philosophical Journal, dann auch in führenden amerikanischen Tages-zeitungen wie The World, The Sun und The Daily Graphic, ab 1879 in indischen Zeitungen wie der Bombay Gazette und dem Indian Spectator. Nach Gründung ihrer ersten eigenen Zeitschrift, dem Theosophist, trug sie eine Unmenge an Artikeln zu religiösen und philosophischen Fragen bei, und – mit dem Anwachsen der theosophischen Weltbewegung – auch zur Revue Theosophique in Paris und zum amerikanischen The Path. Diese enorme Menge an journalistischen Arbeiten steht neben ihren in Buchform erschienen Hauptwerken – der Isis, der Geheimlehre, dem Schlüssel zur Theosophie und der Stimme der Stille – und findet sich bisher nur in englischer Sprache in den von Boris de Zirkoff heraus-gegebenen Collected Writings.
   Die Aufsätze in den Folgen des Lucifer aus der Feder von H. P. Blavatsky sind geniale Beiträge zu Themen der Theosophie, der Magie, des Okkultismus und der Esoterik – der Stil ist brillant und luzide, die geistige Tiefe unerschöpflich, die Inhalte keineswegs in irgendeiner Weise veraltet, sondern alle Zeiten überdauernd. Man kann überhaupt die Lucifer-Aufsätze als das eigentliche geistige Erbe der Madame Blavatsky be-zeichnen, der "Sphinx des 19. Jahrhunderts", wie man sie so gern nannte, die wohl gerade in Deutschland unbekannter ist als in jedem anderen Land. Wie bei einer Zeitschrift mit solchem Titel nicht anders zu erwarten, beschäftigen sich einige Beiträge mit der mythologischen Figur des Lucifer, aber auch andere Aufsätze zu Themen wie Der esoterische Charakter der Evangelien, Praktischer Okkultismus und Karmische Visionen stechen besonders hervor, daneben der offene Brief Lucifer an den Erzbischof an Canterbury. Aber auch sonst war der Lucifer ein Forum der ersten bewusst-esoterischen Bewegung des Abendlandes – der theosophischen – in dem Autoren von Rang wie Franz Hartmann zu Wort kamen. In den ersten Nummern zeichnete neben Frau Blavatsky die Schriftstellerin Mabel Collins (1851–1927) als Mitherausgeberin, deren Buch Licht auf dem Pfad zuerst in den Folgen des Lucifer in Fort-setzungen veröffentlicht wurde.
   So erwies sich der Lucifer in der Tat als ein Fackelträger – ein wichtiger Impulsgeber der noch jungen esoterischen Bewegung des Westens. Denn was ist der Lucifer anderes als ein Leuchtfeuer, das allen auf dem Ozean der Maya verirrten Schiffen den Weg zum rettenden Ufer zu weisen vermag? Madame Blavatsky wollte wie Buddha nur ein Weg-weiser sein, und wie Nietzsche wandte sie sich mit großer Vehemenz gegen das klerikale Christentum; aber anders als der Verfasser des Antichrist war sie sehr um die Entwicklung eines esoterischen Chris-tentums (auf gnostisch-theosophischer Grundlage) bemüht; anders als er war sie eine von Mahatmas und tibetischen Lamas geschulte Eso-terikerin, die um die Gesetze des menschlichen Bewusstseins und die Stufen des geistigen Aufstiegs gut bescheid wusste. H. P. Blavatsky war in gewisser Weise der Lucifer der Theosophie – sie brachte dem Abend-land das "Licht des Ostens", das der Westen aber bald als sein eignes Licht erkannte, die Leuchte des Geistes in den alten Mysterienschulen, die aber zwei Jahrtausende lang verdeckt war durch eine absolut lichtundurchlässige Schale christlicher Theologie. Deshalb auch der ständige Titanenkampf Frau Blavatskys gegen den Theologengeist – es ist kein Kampf gegen das Christentum an sich, sondern einer gegen jene, die bisher immer das Geistige Licht mutwillig und im eigenen Interesse verdeckt haben.
   Das befreiende, erlösende, luciferische Licht, das die Pioniere der Theosophie vor mehr als 100 Jahren mitten in Europa anzündeten, wird vielleicht erst in heutiger Zeit ins Bewusstsein dringen. Es wird sich dann als der Morgenstern eines neuen Weltzeitalters erweisen. Deshalb gel-ten auch heute die Worte in der Stimme der Stille: "Ach! Wenn du erst einmal wie ein Fixstern in des Himmels höchster Höhe geworden bist, muss jener prächtige, himmlische Stern aus den Tiefen des Raumes für alle strahlen – nicht für sich selbst. Gib allen Licht, von keinem aber nimm es."[4]

Copyright © Manfred Ehmer


[1] Zt. nach: Sylvia Cranston, HPB – Leben und Werk der Helena Blavatsky, Begründerin der modernen Theosophie, Satteldorf 1995, S. 398.
[2] Walther Rehm, Experimentum Medietatis, München 1947, S. 8.
[3] Boris de Zirkoff im "Preface" zu den "Collected Writings, p. vii.
[4] H. P. Blavatsky, Die Stimme der Stille, Eberdingen 1994, S. 90.


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