Das Wesen der Theosophie
Überliefert ist der Begriff "Theosophie" aus dem Griechenland des 3. Jh. von Ammonius Saccas. Laut Diogenes Laertius soll er aber schon früher im ptolemäischen (auch griechisch geprägten) Ägypten verwandt worden sein. Im Griechischen bedeutet "Theos" = göttlich und "Sophia" = Weisheit. Ammonius Saccas und seine Schüler übten sich in einer Denkrichtung, die sich in der Erkenntnis der Welt nicht allein auf die Ansprüche von Religionen stützen wollte, sondern auf die Wahrheit. Ihr Wahlspruch lautete "Keine Religion ist höher als die Wahrheit". Schüler von Saccas gehörten verschiedenen Religionen an. Jede Religion wurde respektiert und keine durfte, auch nicht kraft Autorität, über eine andere gesetzt werden. Saccas und seine Schüler übten sich in der alten griechischen Tradition der Debatte und bemühten sich, die unterschiedlichen Welterklärungen zu vergleichen und zu verstehen, so dass jeder Einzelne seine persönliche Wahl nach Kriterien der Vernunft treffen konnte. Diese gerade heute wieder sehr modern wirkende Betrachtung entstammt der alten griechischen Tradition der Ergründung der Wahrheit durch die Mittel der Betrachtung, der logischen Analyse und der Debatte.
Diesem Denken lag die Beobachtung zugrunde, dass unterschiedliche Religionen die Ausdrucksformen und die Bedürfnisse von Menschen in unterschiedlichen Kulturen und Situationen widerspiegeln. Im Mittelmeerraum, der Welt der Griechen, waren ein Dutzend Religionen bekannt. Interessanterweise wurden sie alle als für ihre Mitglieder gültig anerkannt. Wenn jemand in das Gebiet einer anderen Religion reiste, respektierte er den ihm fremden Kult als eine Ausdrucksform dieser anderen Kultur. Dennoch existierte die Vorstellung, dass alle Menschen ein vergleichbares Bewusstsein trügen, wie könnte man sonst miteinander kommunizieren, Handel treiben oder zwischenmenschliche Kontakte pflegen? "Religion" hatte bei den Griechen der Antike noch nicht den absoluten Charakter, den die großen Religionen ab dem europäischen Mittelalter entwickeln sollten. Weil das - eher unausgesprochen - den Griechen bewusst war, sollte keine Religion den autoritären Anspruch erheben können, für alle Menschen gelten zu wollen.
Man könnte davon ausgehen, dass am Beginn menschlicher Kulturen religionsähnliche Vorstellungen v.a. dadurch entstanden sind, dass Menschen unerklärliche und oft Angst machende Phänomene in ein sich entwickelnden Weltbild einordnen wollten. Sie wollten die unerklärlichen Phänomene erklären können, um ihnen damit den angsterzeugenden Charakter zu nehmen. Blitz und Donner sind typische Beispiele für derartige Phänomene. Später begannen die religiösen Weltbilder und die eigenen Erfahrungen, die zu neuen erfolgreichen Verhaltensweisen führten (z.B. bei der Jagd) auseinanderzufallen. Seitdem gibt es den Konflikt zwischen religiösen Erklärungen der Welt und den naturwissenschaftlichen Weltbetrachtungen und -erklärungen (um genau zu sein, es ist i.d.R. ein Konflikt zwischen den Vertretern der jeweiligen Denkrichtungen). Naturwissenschaften suchen nach den Gründen von Erscheinungen in der Welt allein in den Objekten und Kräften, die sie in der materiellen Welt beobachten und beschreiben können. Religionen postulieren dagegen die Herkunft der in der materiellen Welt beobachteten Erscheinungen aus Prozessen (Schöpfung) und Intentionen (göttlicher Wille). Da sie die Ursachen der Existenz und der Bewegungen in der materiellen Welt in eine Sphäre verlegen, die nicht allgemein zugänglich ist, entziehen sie ihre Interpretationen der Möglichkeit, von jedermann nachgeprüft werden zu können. Fast seit Beginn der menschlichen Kulturen scheinen daher Religionen und empirische Erkenntnis in einem unauflöslichen Widerspruch zu stehen. Und mit jeder neu erlangten empirischen Erkenntnis schmilzt der Erklärungsraum der Religionen. Aus diesem Grund haben fast alle theistischen Religionen (d.h. ihre Vertreter) eine mehr oder weniger ausgeprägte Abneigung gegen die Naturwissenschaften entwickelt. Trotz der großen naturwissenschaftlichen Fortschritte unserer Zeit müssen wir davon ausgehen, dass es voraussichtlich auch in Zukunft immer noch Bereiche des Lebens geben wird, die sich der allein naturwissenschaftlichen Begründung entziehen.
Theosophie, wie sie von den Gründern der heutigen theosophischen Bewegung ab 1875 verstanden worden ist, versucht, an die alte griechische Tradition des Respekts der Religionen bei gleichzeitiger Diskussion ihrer Formen und Inhalte anzuknüpfen. In den über die Welt verteilt anzutreffenden theosophischen Gesellschaften gehören Mitglieder den verschiedensten Religionen an, d.h. das der Theosophie zugrundeliegende Prinzip des Respekts vor den Religionen wird lebendig gehalten. Dennoch beschäftigt sich die Theosophie ausdrücklich mit den Fragen, welche Wirkungskräfte und Wirkungsformen hinter den Erfahrungen stehen, die Menschen in allen Religionen dieser Welt machen. Die Naturwissenschaften haben inzwischen weltweit ein allgemein höheres Ansehen erlangt als die Religionen. Da Menschen vielfach Erfahrungen machen, die von den Naturwissenschaftlern weder ernst genommen noch erklärt werden können, besteht hier ein Bedarf an Austausch und Erklärung, soweit dies möglich ist.
Zur Zeit der Griechen wurde über die Logik und die Glaubwürdigkeit der verschiedenen religiösen Weltbilder debattiert. Dass Religionen eine Existenzberechtigung hatten, wurde - bis auf wenige Ausnahmen - kaum in Frage gestellt. Seit der europäischen Aufklärung im 18.Jh. hat sich eine Entwicklung verstärkt, in der Religionen generell für überflüssig gehalten werden. Man glaubt, dass die Naturwissenschaft alle offenen Fragen des Lebens mit ihren Mitteln hinreichend erklären kann. Es gibt viele Menschen, die mit dieser Sicht konform gehen, d.h. sie stellen keine Fragen, die über das Weltbild der Naturwissenschaft hinausgehen. Aber es gibt immer Menschen, die aufgrund von eigenen Erlebnissen oder aufgrund ihres Denkens an die Grenzen des naturwissenschaftlichen Weltbildes stoßen. Die heutige Theosophie versucht, sich primär diesen Fragen zu widmen.
Es liegt in der Natur des theosophischen Denkens, dass sich die moderne Theosophie den Religionen näher empfindet, die in ihrer Form der Erkundung des Menschen und der Welt durch den Menschen selbst stärker empirisch orientiert sind als denen, die allein über Postulate (einmalige Aussagen über die Schöpfung, Gottes Wille usw.) die Welt und das Menschsein erklären wollen. Daher muss es nicht verwundern, wenn die theosophische Bewegung von Anfang an v.a. dem Buddhismus nahegestanden hat. Hinzu kommt, dass in allen Texten, Erklärungen und Handlungen innerhalb von Religionen es unterschiedliche Schichten gibt, die unterschiedlichen Zielen dienen, die aber nur von denen richtig interpretiert und verstanden werden, die die einer bestimmten Schicht zugehörigen Bedeutungen und Regeln kennen. In ihrem Bemühen um die Erkenntnis von Religionen versucht Theosophie auch, derartige Schichten kenntlich zu machen und ihr Verständnis zu vermitteln.
Theosophie will selbst keine eigene Religion darstellen oder schaffen. Dennoch vertreten die meisten Mitglieder der theosophischen Gesellschaften gewisse Grundannahmen: Sie sind der Überzeugung, dass es keinen personalen Gott i.S. einer "Person" mit menschenähnlichen Attributen gibt, sondern dass "das Göttliche" - wenn man etwas derartiges postulieren will - unerkennbar ist und nicht mit Namen und Attributen ausgestattet werden sollte. Sie sind weiterhin der Meinung, dass die Entwicklung der Welt nur scheinbar linearen (und damit einfach erkennbaren und prognostizierbaren) Entwicklungsformen folgt, dass in Wirklichkeit aber periodische Entwicklungszyklen alle Formen von Leben prägen, auch wenn diese Zyklen teilweise über sehr lange Zeiträume gehen können. Weiterhin wird davon ausgegangen, dass alles was lebt, auf eine subtile Weise miteinander verbunden ist, dass aus diesem Grund gegenüber jeder Form des Lebens mit Bewußtsein und Behutsamkeit gehandelt werden sollte. Insbesondere geht die Theosophie davon aus, dass oberflächliche Unterschiede zwischen den Menschen wie Rassen-, Religions- und Staatszugehörigkeiten usw., nicht den geringsten Grund für Diskriminierungen bieten dürfen. Im Gegenteil postuliert die Theosophie die Bruderschaft der ganzen Menschheit, aller Wesen.
Obgleich Theosophie keine eigene Religion darstellen will, hat sich gezeigt, dass viele Mitglieder der theosophischen Gesellschaften Haltungen vertreten, die denen des Buddhismus nahekommen. Es wird u.a. davon ausgegangen, dass Leben nie endgültig erlischt, sondern in anderen Formen in der materiellen Schöpfung erneut in Erscheinung tritt, dass daher der Tod keinesfalls im Nichts endet. Diese Idee steht den Vorstellungen der Reinkarnation nahe, es gibt aber unterschiedliche Auffassungen über einzelne Aspekte dieser Vorstellungen.
Letztlich wird in der Theosophie davon ausgegangen, dass jedes Leben Teil eines großen Bewusstseins ist, das den ganzen Kosmos beseelt, das auch diesen Kosmos vor sehr langer Zeit hat entstehen lassen. Da eine solche Idee sehr fern den Erlebnisformen ist, die wir als Menschen auf der Erde im Alltag leben, ist es verständlich, dass konkrete Vorstellungen, wie ein solcher Zusammenhang dargestellt werden kann, auseinandergehen. Erinnern wir uns an dieser Stelle noch einmal an die alten Griechen, die sich nicht erlaubten, endgültige Urteile über die Wahrheit von Religionen und die ihnen innewohnenden Welterklärungen zu fällen. Schon damals haben sie erkannt und durch ihre Praxis gelebt, dass es im Bereich der Diskussion um Religionen keine eindeutige oder endgültige Wahrheit geben kann. Die Wahrheit einer religiösen Welterklärung kann sich nur dem Einzelnen erschließen, sie kann niemals durch Dritte "bewiesen" werden. Daher stellt jeder Versuch, eine Religion durch Manipulation oder Gewalt anderen Menschen aufzwingen bzw. ihre "Überlegenheit" beweisen zu wollen, einen Akt der Verletzung grundlegender Menschenrechte dar. Jede Religion der Welt kann für positive Zwecke genutzt werden (inneres Wachstum, mitmenschliche Liebe und Bruderschaft, Verantwortungsbewusstsein und Hilfestellungen usw.) wie ebenso für negative Zwecke (innere Verhärtung, Abgrenzung, Hass, Angsterzeugung, Machtgewinn und -nutzung usw.). Der Unterschied liegt in aller Regel weniger in den Religionen als in den Menschen, die sie interpretieren und sich ihrer für ihre eigenen - oft sehr egoistischen - Zwecke bedienen.
Der Mensch ist unter den Geschöpfen dieser Erde der einzige, der über die entwickelte Fähigkeit verfügt, sich über die Welt und über sich selbst in einem hohen Maße bewußt zu werden. Aus diesem Grund postuliert Theosophie eine besondere Verantwortung des Menschen für den Erhalt der Natur auf unserem Planeten im weitesten Sinne: für die tierischen und pflanzlichen Mit-Lebewesen wie auch für den Lebensraum, den diese zum Leben benötigen, auf den letztlich jedoch auch der heutige Mensch sowie die kommenden Generationen angewiesen sind.
H. Bormann